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Neue Soziale Bewegungen Erinnerungskulturen

„Erinnerungskulturen der sozialen Demokratie“: Selbstbewusst und selbstkritisch

Die Expertenkommission „Erinnerungskulturen der sozialen Demokratie“ hat ihre Abschlussempfehlungen vorgelegt. Bei einer Online-Podiumsdiskussion mit Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern stießen sie auf viel Zustimmung.

Von Joachim F. Tornau

Petra Reinbold-Knape fand ihren Satz selbst ein wenig pathetisch. Aber das, befand die Gewerkschafterin, mache ihn nicht weniger wahr. „Wir stehen mit unseren Füßen auf den Ergebnissen erkämpfter Geschichte“, sagte das Vorstandsmitglied der IG BCE. Ob Mitbestimmung, Tarifverträge oder soziale Sicherungssysteme, ob bezahlter Urlaub, Kurzarbeitergeld oder Lohnfortzahlung im Krankheitsfall: Was heute als selbstverständlich gelte, habe von den Gewerkschaften erst erkämpft werden müssen. „Uns wurde nichts geschenkt.“

Im öffentlichen Bewusstsein jedoch ist die Erinnerung an diese Kämpfe, an die Erfolge oder, allgemeiner gesprochen, an die bedeutende Rolle, die Gewerkschaften und andere soziale Bewegungen bei der Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland gespielt haben, kaum noch präsent. Warum das so ist und wie diesem Vergessen entgegengewirkt werden kann, damit beschäftigte sich in den vergangenen drei Jahren die auf Initiative der Hans-Böckler-Stiftung eingesetzte Expertenkommission „Erinnerungskulturen der sozialen Demokratie“.

Die Abschlussempfehlungen der Kommission, in der Vertreterinnen und Vertreter aus Geschichtswissenschaft, Gewerkschaften, Hans-Böckler-Stiftung und der Bundeszentrale für politische Bildung zusammenarbeiteten, wurden am 25. Februar bei einer Web-Konferenz vorgestellt und mit führenden Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern diskutiert.

"Auch an Niederlagen und Versäumnisse erinnern"

Kommissionsleiter Stefan Berger, Direktor des Instituts für soziale Bewegungen an der Ruhr-Universität Bochum, nannte Mitbestimmung, Tarifvertragswesen und Sozialstaat zentrale Felder der Erinnerungsarbeit. „Gewerkschaften waren und sind eine der wichtigsten Säulen der sozialen Demokratie.“ Er betonte gleichzeitig: „Es war der Kommission aber wichtig, keine reine Triumphgeschichte zu präsentieren.“

Um die Erinnerung an vergangene Leistungen für die Zukunft selbstbewusst nutzbar machen zu können, müsse selbstkritisch auch an Niederlagen und Versäumnisse erinnert werden, erklärte der Geschichtsprofessor. Weibliche, migrantische, ostdeutsche und andere marginalisierte Perspektiven seien stärker zu berücksichtigen, ebenso wie die Erfahrungen atypisch Beschäftigter. Zudem sei die Geschichte der Gewerkschaften nicht isoliert zu betrachten, sondern zu verknüpfen mit der Geschichte anderer sozialer Bewegungen, etwa der Frauenbewegung oder Migrantenorganisationen. „Wir dürfen nicht mit einem Tunnelblick erzählen.“

Die Vorschläge der Kommission, wie das in die Praxis umgesetzt werden kann, reichen vom Ausbau des Online-Portals gewerkschaftsgeschichte.de, das die Hans-Böckler-Stiftung 2016 zusammen mit dem Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung ins Leben gerufen hat, über die Entwicklung von Social-Media-Strategien für die Erinnerungsarbeit bis zum bereits angelaufenen Projekt der Schaffung einer „Route der sozialen Demokratie“ im Ruhrgebiet.

Bei der anschließenden Online-Podiumsdiskussion zeigte sich nicht nur IG-BCE-Vorständin Reinbold-Knape äußerst angetan von der Arbeit der Kommission. Das Projekt, sagte DGB-Vorsitzender Reiner Hoffmann, sei „außerordentlich fruchtbar“ gewesen: „Erinnerung kann helfen, eine kollektive Klammer für eine immer stärker ausdifferenzierte Arbeitnehmerschaft zu schaffen.“ Zugleich wurde deutlich, wie viel noch zu tun ist.

Um die jüngere Generation zu erreichen, müsse die gewerkschaftliche Erinnerungsarbeit bereits in der Schule ansetzen, forderte Martina Rößmann-Wolf, Vorsitzende des ver.di-Gewerkschaftsrats: „Es ist zu spät, wenn wir damit erst anfangen, wenn die Menschen ins Erwerbsleben starten.“ Chaja Boebel vom Bildungszentrum der IG Metall in Berlin hob hervor, dass es bei der Erinnerungskultur nicht ums bloße Vermitteln, sondern vor allem um die Diskussion gehen müsse: „Wir brauchen dringend Debattenräume. Und wir brauchen historisch gebildete Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben, die die Debatten einordnen können.“ Nicht zuletzt, um dem von Facebook & Co. befeuerten Trend zu Schwarz-Weiß-Denken in der Gesellschaft entgegenwirken zu können.

Die Auseinandersetzung mit den Kommissionsempfehlungen hat erst begonnen. Im März wird sie mit drei weiteren Online-Konferenzen fortgesetzt. Und auch der DGB-Bundesausschuss und der Vorstand der Hans-Böckler-Stiftung, so kündigte Reiner Hoffmann an, werden sich noch intensiv damit beschäftigen.